2007 | 94 Min. | Kinodokumentarfilm RBB/ARTE, WDR, Filmstiftung NRW

Rubljovka – Straße zur Glückseligkeit

Rubljovka ist die Verkehrsader, die das Zentrum der Macht Moskau mit der russischen Provinz verbindet. Die Gegend um die Rubljovka zog in allen Zeiten die herrschende Elite an: Zaren, Diktatoren, Präsidenten. Auch Präsident Putin wohnt hier. In Putins Russland ist Rubljovka zum Synonym von Reichtum, gesellschaftlichem Aufschwung und dekadenter Lebensart geworden.

Spuren der Vergangenheit und die grotesken Auswüchse des russischen Raubkapitalismus bilden hier einen bizarren Mikrokosmos, den es sonst nirgendwo im Riesenreich gibt. Neureiche Emporkömmlinge haben die Grundstückspreise an der Rubljovka in exorbitante Höhe getrieben. Jetzt ist der Krieg um die wenigen noch vorhandenen Fleckchen Boden ausgebrochen. Die letzten Hütten der Armen müssen den Palästen der Reichen weichen, mit Methoden, die kaum unlauterer und brutaler sein könnten. Und kaum einer wagt noch dagegen zu protestieren. Kein Wunder. Rubljovka ist ein streng überwachter Hochsicherheitstrakt, wo vieles verschwiegen und verheimlicht wird. Trotz mühsam erkämpfter Drehgenehmigungen wurde das Filmteam permanent vom russischen Sicherheitsdienst FSB, der Verkehrspolizei und von sämtlichen Wachdiensten behindert und bedroht. Vieles musste mit versteckter Kamera gedreht werden.
Der Film zeichnet ein gesellschaftliches Porträt des heutigen Russlands, in dem Putins ‚gelenkte Demokratie’ immer mehr diktatorische Züge gewinnt.

Directors Statement zum Film Rubljovka – Straße zur Glückseligkeit

von Irene Langemann

Im August 2004 las ich in der russischen Zeitung „Argumenty i fakty“ einen Bericht über die Gegend um die Rubljovo-Uspenskoje Chaussee (im Volksmund Rubljovka), wo Millionäre sich die Klinke in die Hand geben und der Wettstreit um Glamour, millionenschwere Immobilien und Luxuskarossen bizarre Ausmaße angenommen hat. In meiner Erinnerung aus den 80er Jahren war die Rubljovka eine idyllische Landstraße, an der die sowjetische Crème de la Crème ihre Datschen von Väterchen Staat zugewiesen bekam. Diese rasante gesellschaftliche Veränderung eines 30 Kilometer langen Landstrichs war für mich der zündende Funke zur filmischen Erforschung dieses Phänomens.

Schon meine erste Recherchereise im Winter 2005 ergab, dass die im Artikel beschriebene Glitzerwelt der Neureichen sich hinter Mauern, Panzerglaslimousinen und streng bewachten, abgeriegelten Siedlungen verbirgt. Die zweispurige schmale Straße hat sich in einen Hochsicherheitstrakt verwandelt. An jeder größeren Straßenkreuzung patrouillieren Polizisten, die den Verkehr umleiten oder stoppen, wenn sich Regierungskarossen nähern. Als ich aus dem Auto ein Foto von den Ordnungshütern machen wollte, bekam mein russischer Begleiter Panik: dies sei viel zu riskant, man würde sofort unsere Papiere kontrollieren. Warum? Weil wir uns auf der Präsidentenstrasse befänden – Putins Wegstrecke zum Kreml.
Obwohl die Ausgangssituation für mein Filmvorhaben ziemlich prekär war, machte ich mich trotzdem auf die Suche nach Protagonisten und konnte recht schnell interessante Vertreter der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen ausfindig machen. Sogar die skandalumwitterte Rubljovka-Chronistin Oxana Robski, Witwe eines ermordeten Oligarchen, hatte zugesagt.

Das filmische Treatment ging mir rasch von der Hand, danach passierte ein Jahr kaum etwas. Die Finanzierung des Projektes erwies sich als äußerst schwierig. Mit dem Einstieg von RBB/ARTE, des WDR und der Filmstiftung Nordrhein-Westfalen hatten wir schließlich Anfang 2006 den größten Teil des Budgets zusammen. Ich machte mich wieder auf den Weg nach Moskau und merkte schnell, dass das Land noch mehr zu einem Polizeistaat mutiert war. Die allgegenwärtige Präsenz von allerlei Bewachungsdiensten wird mit Terrorgefahr rechtfertigt. Vor siebzehn Jahren hatte ich Russland wegen seines menschenverachtenden Systems verlassen. Unter Jelzin war das Riesenreich auf halbem Wege zur Demokratie, heute ist die Staatsordnung autoritärer als in den letzten Jahrzehnten der Sowjetära. Wie damals, werden Menschen wie Marionetten behandelt und als Individuen nicht geachtet. Ein durch und durch korruptes System beherrscht den Alltag. Auf der Rubljovka, wo Superlativen üblich sind, ist all dies ums Vielfache multipliziert vorhanden. Dies erschwerte die Vorbereitung der Dreharbeiten noch mehr.
Die Suche nach einem Aufnahmeleiter entwickelte sich zunächst zu einem aussichtslosen Unterfangen. Niemand wollte sich auf das Risiko einlassen – das Thema erschien allen zu schwierig. Es stellte sich heraus, dass man für den Dreh die Genehmigung des Kremlkommandanten braucht, der höchstpersönlich für die Sicherheit Putins verantwortlich ist. Zusätzlich die Erlaubnis des FSB (früher KGB), FSO (Föderaler Sicherheitsdienst) und GIBDD, der zuständigen Abteilung der Verkehrspolizei. Außerdem, hieß es, bekommen Ausländer grundsätzlich keine Drehgenehmigung an der Rubljovka. Hätte ich dies von Anfang an gewusst, wäre aus dem Projekt wahrscheinlich nichts geworden. Nun war es aber zu spät. Die einzige Chance den Film zu machen war, sich als eine russische Filmproduktion zu tarnen.
Über einen befreundeten Filmemacher lernte ich Tatjana Petrik kennen, eine Produktionsstudentin der Filmhochschule WGIK, die eine eigene kleine Filmproduktion, aber keinerlei Erfahrungen im Dokumentarfilmbereich hatte. Vermutlich deswegen übernahm sie mit naivem Optimismus die Aufnahmeleitung für den Film. Unter ihrem Firmennamen leiteten wir die erforderlichen Gesuche beim FSB, FSO und GIBDD ein und setzten alle vorhandenen Beziehungen ein, um das Verfahren zu beschleunigen. Da ich unbedingt einen Verkehrspolizisten als Filmfigur haben wollte, musste ich Monate vor Drehbeginn eine Liste mit Fragen an das GIBDD abliefern. Sie wurden zensiert und weiter an den FSB geleitet.
Parallel begannen die Schwierigkeiten mit den Protagonisten. Die kapriziöse Oxana Robski avancierte in den vergangenen 15 Monaten zum Medienstar in Russland. Ein deutscher Dokumentarfilm interessierte sie keine Bohne mehr. Durch einen Sterbefall in der Familie konnte die toughe Immobilienmaklerin Lora nicht mehr mitmachen. Das Partygirl Xenia fand es plötzlich viel aufregender an der Côte d’Azur und kehrte dem elterlichen Anwesen an der Rubljovka den Rücken. Die Suche nach Protagonisten im turbokapitalistischen Alltag ging von vorne los. Journalisten von der Zeitschrift „Auf der Rubljovka“ lieferten mir die entscheidenden Tipps und halfen bei Kontaktaufnahmen.

Ende März 2006 bekamen wir das Signal vom FSO, dass die Genehmigung auf gutem Wege sei. Ich setzte den Drehbeginn auf den 6. Mai an. Natürlich hatten wir keine Drehgenehmigung am ersten Arbeitstag. Es hieß: elf Generäle hätten unterschrieben und der zwölfte sei noch zwei Wochen im Urlaub. Ich war verzweifelt, denn einige Protagonisten waren nur in der ersten Maihälfte in Russland. Wir mussten auf jeden Fall anfangen. Mein russisches Team hatte jede Menge Gruselgeschichten auf Lager, was einer Filmgruppe passieren kann, die sich nicht an die Regeln des Polizeistaates hält – vom Beschlagnahmen des Filmmaterials bis zur Inhaftierung des Teams. Wir beschlossen sehr vorsichtig zu sein und einige Motive heimlich zu drehen. Zwei Tage ging es gut. Als wir am dritten Tag den Fahrradausflug der Pelzdesignerin Helen Yarmak filmten und von einer Waldstraße in die Rubljovka einbogen, heulten schon nach einer halben Minute Polizeisirenen. Der Dreh wurde abgebrochen. Die Kassette verschwand vorsorglich in meinem Rucksack, Tatjana begab sich zu den Polizisten. Ob sie den Herren zum morgigen Tag des Sieges gratulieren dürfe, fragte meine Aufnahmeleiterin scheinheilig. „100 Dollar pro Nase“, war die prompte Antwort. Glücklicherweise waren es nur zwei Nasen.

Am 19. Mai hatten wir die Drehgenehmigung vom FSO. Der Jubel verflüchtete sich schnell. Es gab folgende Auflagen: 1. Das Beenden der Dreharbeiten nach der ersten Aufforderung des FSO. 2. Die telefonische Absprache über jeden Drehort mit dem Diensthabenden Offizier des FSO 24 Stunden vor Drehbeginn. Der dritte Punkt hatte den Wortlaut: „Wir sind gegen die Aufnahmen mit einem Verkehrspolizisten am Posten des GIBDD.“ Am nächsten Tag begab sich Tatjana mit der FSO-Drehgenehmigung, einem teuren französischen Kognak und wenig Hoffnung zum Verantwortlichen der GIBDD Abteilung. Über den letzten Satz grinste er breit und meinte: „Na, dann gehen wir davon aus, dass es erlaubt ist.“ Warum er die Dreharbeiten am Posten genehmigt und uns den Polizisten Gennadij zur Verfügung gestellt hat, kann ich nur mit der Rivalität zwischen der Verkehrspolizei und deren mächtigen Befehlsgeber FSB und FSO erklären. Oder lag es an dem guten Kognak? In der Machtvertikale des heutigen Russlands ist alles möglich.
Am nächsten Tag konnten wir ungestört drehen. Danach war die Ruhe wieder vorbei. Sobald sich Regierungskarossen mit Blaulichtern näherten, kam von Gennadij der Befehl: „Kamera aus!“ Bei Verzögerung drohte er Tatjana schon mal, mit der Schließung ihrer Firma. Kameramann Maxim Tarasjugin entwickelte diverse Tricks, entfernte sich bei diesen Aufforderungen von der Kamera, ließ sie aber weiter laufen. Wir mussten uns von Gennadij Sprüche anhören, wie: „Die Tschekisten (früherer Name für KGB-Leute) schießen ohne Vorwarnung.“ So gruselig-gespenstisch ging es bis zum letzten Drehtag zu. Für mich war es ein unwürdiges Spektakel. Für mein Team – russische Normalität.

Kann man überhaupt noch an die filmische Gestaltung denken, wenn man sich nur mit solcherlei Dingen herumschlagen muss? Obwohl ich im Vorfeld alles dezidiert vorbereitet hatte, ging es bei diesen Dreharbeiten häufig nur mit blitzschnellen Entscheidungen und viel Improvisation voran. Die schönste war die überraschende Begegnung mit dem inzwischen verstorbenen Jahrhundertmusiker Mstislaw Rostropowitsch. Eine erfrischende Entdeckung war der 12jährige Roma Romanow, ein hoch intelligenter Junge, der trotz des zarten Alters das russische Demokratie-Experiment durchschaut hat.
Durch das unmittelbar Erlebte bekam die politische Ebene für mich eine neue Dimension. Die Kontrahenten Putin und Chodorkowskij, wohnten bis zur Inhaftierung des Ölmilliardärs, nicht weit voneinander an der Rubljovka. Diesen Aspekt hätte ich sehr gerne in meinem Film zum Ausdruck gebracht. Ich unternahm zahllose Versuche seine Frau und Eltern zu kontaktieren. Nachdem jedoch ein Rechtsanwalt von Chodorkowskij die Besorgnis äußerte, dass jedes Mal wenn die Familie Kontakte zu westlichen Medien aufnähme, die Haftbedingungen für Michail verschärft werden, entschied ich, nicht weiter darauf zu bestehen.

Der auf der Rubljovka unsichtbare Putin – ein vermeintlicher Demokrat, der für sein Volk kämpft oder in den Gemälden des Malers Nikas Safronov hoch zu Rosse in Napoleons Pose dargestellt wird – sollte im Film durch die Berichterstattung im russischen Fernsehen präsent werden. Dass die Medien im Riesenreich gelenkt sind, ist schon länger bekannt. Durch die kontinuierliche Beobachtung der Nachrichten, bekommt man gar den Eindruck von Gehirnwäsche. Die Bevölkerung wird systematisch auf einen alten Führertypus im neuen Gewand vorbereitet. Das Staatsoberhaupt hat die politische und Presselandschaft gleich geschaltet. Es wird versucht, die Fassade russischer Stabilität mit allen Mitteln aufrecht zu erhalten.
Aus Sicherheitsgründen durften wir die Putin-Eskorte natürlich nicht filmen. Das sei Staatsgeheimnis. Gennadij, der mit leuchtenden Augen von einem erdbebenähnlichen Vorbeirauschen der Präsidentenkolonne sprach, sagte sogar, er würde seinen Job verlieren, wenn wir von seinem Posten aus diesen Vorgang drehen sollten. Nach unzähligen Telefonaten ließ der Pressesprecher der Präsidialverwaltung durch die Blume verstehen, wenn wir das Motiv unbedingt haben möchten, sollten wir uns doch in die Büsche schlagen und es heimlich drehen. Nach vielen Versuchen ist es uns dann doch gelungen. Am Schluss des Films rast eine Autokolonne über die Rubljovka. Vorher ist alles totenstill, dann zieht ein  Grummeln wie ein Gewitter auf und die Putin-Eskorte rast durch das Bild. Danach zwitschern wieder die Vögel und die an den Straßenrand gedrückten Autos fahren weiter. Ein Symbol wie aus dem Feudalismus, wo alle Passanten stehen bleiben und sich verbeugen mussten, wenn der Herrscher mit seinem Tross vorbeifuhr. Dieses Bild ist für mich ein Symbol des heutigen Russlands.

Neben der Bildebene spielt für mich in diesem Film auch die Tonebene eine sehr wichtige Rolle. Von Anfang an stellte ich mir eine Art Tonchoreographie vor, bestehend aus Musik und der Kakophonie der Straßengeräusche. Die Filmmusik, die mein Sohn Michael Langemann komponiert hat (z. Zeit Kompositionsstudent an der Columbia University in New York), entstand nicht wie üblich nach dem Feinschnitt, sondern schon im Vorfeld des Schnitts. Sie ist ein selbständiges künstlerisches Element des Films, das das Dämonische, was die Rubljovka ausstrahlt, noch mehr verstärkt.

Quad-Club „Crazy ducks“

Interview mit einem Verkehrspolizisten


Impressionen von der Rubljovka

Eröffnung der Sommersaison

Filmpremiere in Köln mit den Protagonisten Jermolaj und Tanja Romanow 2007