2010 | 98 Min. | Kinodokumentarfilm RBB/ARTE Filmstiftung NRW, Medienboard Berlin-Brandenburg, Deutscher Filmförderfonds, MEDIA

Die Konkurrenten – Russlands Wunderkinder II

2000 feierte der Film „Russlands Wunderkinder“ seine Weltpremiere bei der Berlinale. Damals waren die Filmhelden umjubelte Kleingenies. Zehn Jahre später sind sie Konkurrenten im knallharten Musikbetrieb, denn die Luft auf dem Pianisten-Olymp ist sehr dünn. Der Film ist eine poetische Studie über das Erwachsenwerden unter den Zwängen eines harten Konkurrenzkampfs.

Mit ihren achtzehn Jahren kann Irina Tschistjakowa auf eine zehn Jahre währende internationale Konzertkarriere zurück blicken. Irina war die Jüngste der vier Protagonisten des Films „Russlands Wunderkinder“, der bei der Berlinale 2000 seine Premiere feierte. Zehn Jahre später sind die kleinen Genies von damals Konkurrenten in knallharten Musikbetrieb. Sie erleben das Drama, das vielen Wunderkindern widerfährt: Als sie noch Kinder waren, konnten sie das Publikum in Erstaunen versetzen durch den Kontrast zwischen der zarten Erscheinung und dem frühreifen Können. Jetzt zählt vor allem die filigrane perfekte Leistung, Höchstpreise bei Wettbewerben, aber auch viel Glück. Sie möchten alle die Weltspitze erklimmen. Doch die Luft auf dem Pianistenolymp ist sehr dünn. Und Platz ist nur für eine Handvoll Tastenvirtuosen.
Ähnlich wie Irina sind auch Nikita Mndoyants, 19, Dmitri Krutogolovy, 20, und Elena Kolesnitschenko, 26, der Musik treu geblieben. Zehntausende Stunden haben sie mit Üben am Klavier verbracht. Hat sich diese Schwerstarbeit gelohnt? Hat die kaum gelebte Kindheit Spuren in ihrer Psyche hinterlassen? Die Unbefangenheit der frühen Jahre und viele Illusionen sind inzwischen verflogen, die Konzertauftritte sind seltener geworden. Und es hat sich nicht nur ihre Körpergröße verändert. Die Welt der Klassik ist in dieser Zeit eine andere geworden. Von Konzertinterpreten erwartet man heutzutage, dass sie wie Popmusiker agieren und attraktiv wie Hollywoodstars sind. Wie kann man das alles neben körperlicher und räumlicher Präzision im Spiel unter einen Hut auf der Bühne bringen? Die Schmerzgrenzen, sowohl physischer als auch seelischer Art, sind im Beruf eines Konzertpianisten alltäglich und müssen immer wieder überwunden werden. Und es ist unglaublich schwierig etwas Neues, Eigenes, Erfrischendes dem Weltfundus an Pianoideen hinzuzufügen.
Der Film „KONKURRENTEN“ erzählt eine universelle Geschichte über Erfolg und Scheitern in der durchkommerzialisierten Welt der klassischen Musik. Sehr nah an den vier Protagonisten, mit bewegenden Rückblenden aus dem Film „Russlands Wunderkinder“, entsteht eine menschliche Studie über das Erwachsenwerden unter den Zwängen eines fast unmenschlichen Konkurrenzkampfs. Auf eine dramatische und poetische Weise verwebt Irene Langemann in ihrem Film, für den sie mehrere Jahre in Russland, Westeuropa und Mexiko gedreht hat, Höhen und Tiefen aus dem Leben ihrer Protagonisten.

Directors Statement

Das Piano und der Pianist stehen in der Welt der Klassik für Utopien, Sehnsüchte, gescheiterte Möglichkeiten und vieles mehr. Die Magie der schwarz-weißen Klaviatur kann Sternstunden des Genusses bereiten, Lebenskraft schenken, aber auch menschliche Existenzen zerstören. Diesem Phänomen bin ich schon in einigen meiner Filme nachgegangen. Warum? Wahrscheinlich, weil es Teil eines Kindheitstraums ist.
Ich bin geboren und groß geworden in Issilkul, einem trostlosen Ort in Sibirien, in dem die einfachen Sachen des Lebens wie Telefon oder fließendes Wasser unerreichbarer Luxus waren. Es gab in dem Städtchen aber eine Musikschule, auf die meine Eltern mich geschickt haben. So wurden das Piano und die Musik zu einem Refugium in einer nicht gerade freundlichen Welt. Damals erkannte ich, dass Armut und harte Lebensbedingungen kein Hindernis bei der Förderung von Talenten in Russland sind. Dieser Gedanke wurde später zum Leitmotiv meines Films „Russlands Wunderkinder“. Er erzählt die Geschichte von vier hochbegabten Pianistenschülern an der Zentralen Musikschule des Moskauer Konservatoriums. Während andere Kinder in ihrem Alter noch mit Puppen und Legosteinen spielten, meisterten sie mit Bravour Konzertauftritte, die selbst Nerven von erwachsenen Pianisten hätten ruinieren können. Von der Musik in fast religiöser Hingabe besessen, erschienen sie mir wie die Überbleibsel einer traumverlorenen Welt. Die vier Film-Protagonisten verzauberten die Zuschauer, lösten aber auch kontroverse Diskussionen aus: Darf man Kinder diesem Leistungsdruck aussetzen? Wird die kaum gelebte Kindheit Spuren in ihrer Psyche hinterlassen? Auch der Begriff ‚Wunderkinder’, den ich bewusst gewählt habe, führte zu Disputen.

Schon bei den Dreharbeiten Ende der 90er Jahre nahm ich mir vor, die Kinder auch weiterhin filmisch zu begleiten und sie in ihrer Entwicklung zu beobachten. Leider wurde aus einer Langzeitbeobachtung nichts. Die Gründe: fehlendes Interesse bei den Fernsehanstalten und die Entfernung zu Moskau. Aber die Verbindung zu meinen Protagonisten ist nie abgerissen, entwickelte sich viel mehr zu einer Freundschaft, vor allem mit den beiden Mädchen. Für sie habe ich immer wieder versucht, Auftritte in Deutschland möglich zu machen. Bei wichtigen Ereignissen, wie der Hochzeit von der damals neunzehnjährigen Elena Kolesnitschenko, war ich auch mit der Kamera dabei.
2006, während der deprimierend-unwürdigen Dreharbeiten zu meinem Film „Rubljovka“ im geldgierigen Moloch Moskau, habe ich mir geschworen nie wieder in Russland zu drehen. Gleichzeitig wurden aber nostalgische Erinnerungen an die Zeit mit den ‚Wunderkindern’ wach und der Wunsch wieder in diese andere Welt, die Welt der russischen Hochkultur einzutauchen. Das letztere siegte. So entstand die Idee zum Film „Die Konkurrenten“. Aber es vergingen wieder Jahre, bis die Finanzierung halbwegs gesichert war. Im Mai 2008 konnten wir mit der ersten Drehphase in Moskau beginnen.
Die kindliche Unbefangenheit der ‚Wunderkinder’ war zehn Jahre später merkbar der Last der Verantwortung gewichen. Es ist bekannt, dass eine Vielzahl genialisch wirkender Kinder, vor allem in der Pubertät, die Lust am Musizieren, oder gar das außerordentliche Talent verliert.
Zum Teil liegt es an dem zermürbenden Übungsprozess, zum Teil an neu erwachten Interessen. Bei diesen vier, inzwischen jungen Menschen, ist es nicht der Fall. Alle sind der Musik treu geblieben und
werden nach wie vor mit Auszeichnungen und Lob überschüttet. Und trotzdem sind die erwachsenen Solistenkarrieren noch nicht richtig in Fahrt gekommen. Hat auch ein Wunder Grenzen?
Um ein großer Pianist zu werden, muss man ähnlich wie ein Leistungssportler trainieren. Disziplin und Verzicht gehören zum Alltag. Man würde ihm oft sagen, er habe eine Sklavenkindheit gehabt, sagt der zwanzigjährige Dmitri Krutogolovy im Film. Er selbst sieht es anders: Klavierspiel, sei auch ein Spiel. 
Im Sport ist es akzeptiert Höchstleistungen zu bringen, ohne sie gäbe es keinen Breitensport. Was hat Höchstleistung aber mit klassischer Musik zu tun? Und was bringt der Allgemeinheit elitäre Kunst? In Deutschland bemüht man sich eher um Projekte mit Breitenwirkung, wie bei der Aktion „Jedem Kind ein Instrument“ in NRW. In Russland ist die Förderung von Ausnahmetalenten seit Sowjetzeiten eine Selbstverständlichkeit. Und trotzdem ist eine große Karriere im eigenen Lande erst nach internationalen Erfolgen möglich. So versuchen immer mehr russische Musiker – auch meine Filmhelden – ihr Glück im Ausland.
Wir begleiteten unsere Protagonisten zu Wettbewerben nach Italien, Österreich und Holland. Die Konkurrenz in der globalisierten Welt ist überall enorm und die Vertreter der russischen Klavierschule nicht mehr so überlegen wie früher. Der internationale Wettbewerbszirkus ist ein eigener Mikrokosmos und offensichtlich durch Seilschaften und Beziehungen durchdrungen. Objektive Juryentscheidungen scheinen kaum noch möglich zu sein. Die Enttäuschungen der Teilnehmer sind oft gewaltig. Doch ohne Preise bei Wettbewerben ist eine Solistenkarriere fast unmöglich. Eine Zwickmühle, in der sich alle ehrgeizigen jungen Musiker befinden.
Die Geographie der Dreharbeiten führte uns um die halbe Welt, von Moskau bis nach Mexiko. Ähnlich wie der Musikbetrieb heute globalisiert ist. Obwohl es bei diesem Film nicht wie bei „Rubljovka“ um die Staatssicherheit ging, waren auch hier die Drehgenehmigungen schwer erkämpft worden. Mit einer erstaunlichen Ausnahme – im Moskauer Kreml. Eine reizende junge Mitarbeiterin schleuste uns souverän durch alle Hintertüren und an allen Posten vorbei zum Konzert unseres Protagonisten Nikita Mndoyants.

Ein Interpret, der als Solist auftritt, ist stets einem enormen Duck ausgesetzt. Sehr viele scheitern daran. Denn neben der Musikbegabung braucht man auch eine hervorragende Gesundheit und ein robustes Nervenkostüm. Wissenschaftler behaupten, professionelles Musizieren auf höchstem Niveau sei das Schwierigste, was der Mensch vollbringen kann. Ich habe großen Respekt dafür. Aus meinem Kindheitstraum Pianistin zu werden, wurde nichts. Ich akzeptierte die Tatsache, dass die Voraussetzungen dazu nicht gegeben waren. Ganz anders war es bei ‚meinen Wunderkindern’, denen die außergewöhnliche Begabung schon in die Wiege gelegt worden war. Auf die Frage, was sie einmal werden möchte, sagte die achtjährige Irina Tschistjakowa ohne zu zögern: „Pianistin“. Irina ist ein Ausnahmetalent. Sie ist diszipliniert, fleißig und sehr intelligent. Aber auch sie braucht viel Glück, damit ihr Kindheitstraum tatsächlich in Erfüllung geht.

Irina Chistiakova


Elena Kolesnitschenko

Nikita Mndoyants

Dmitrij Krutogolovy

Die Protagonisten nach der Filmpremiere im Robert-Schumann-Saal Düsseldorf